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Kapitel 1 – Freitag, 26. Januar

Der Schulbus bremste und stoppte an den Zwillingsbirken. So nannte Frida die beiden mächtigen Bäume, die aus einem gemeinsamen Stamm wuchsen. Wie immer war sie die Letzte, die ausstieg. Richtige Haltestellen gab es auf der schmalen Landstraße nicht. Meistens hielt der Bus gleich vor den Häusern, in denen die Kinder wohnten. Fridas Zuhause lag jedoch ein Stück in den Wald hinein. Dort konnte ein so großes Fahrzeug nicht wenden.

»Tschüs, Frida, hab ein schönes Wochenende!«

»Tschüs, Pelle!« Frida schulterte ihren Rucksack und stieg aus. Sie mochte den glatzköpfigen Busfahrer, der immer ein nettes Wort für sie hatte. Ganz egal, welches Wetter war, sie hatte ihn selten schlecht gelaunt erlebt. Sein Markenzeichen waren seine Kopfbedeckungen. Sobald er von der Wollmütze zur Baseballkappe wechselte, war der Winter offiziell beendet. Leider oft erst Ende April. Bis dahin hatte sie noch einige dunkle Monate durchzustehen, in denen die dicke Schneedecke das Einzige war, was ein bisschen Helligkeit in die langen Stunden ohne Sonnenlicht brachte.

»Grüß deine Mutter von mir.« Pelle zwinkerte ihr zu, dann schlossen sich die Türen, und der Bus setzte sich in Bewegung.

An der nächsten Kreuzung würde er wenden und zurück nach Östersund fahren. Vorausgesetzt, er blieb nicht in den Schneemassen stecken, die die Räumfahrzeuge achtlos an den Straßenrändern zusammengeschoben hatten. So manchen Morgen wartete Frida eine kleine Ewigkeit auf Pelle, wenn er mal wieder die Hinterräder freischaufeln musste.

Er hatte ein Auge auf ihre Mama geworfen, das war Frida schon lange klar. Die Erwachsenen meinten zwar, Kinder würden solche Dinge nicht mitbekommen. Doch sie irrten sich. Bloß weil sie erst neun war, bedeutete das nicht, dass sie nicht begriff, was sich zwischen den Männern und Frauen um sie herum abspielte. Irgendwo hatte sie neulich den Ausdruck feine Antennen gehört. Das gefiel ihr. Ich habe feine Antennen für das, was zwischen den Menschen ist, dachte sie manchmal, wenn sie ihr Umfeld beobachtete. Dass sie von den Erwachsenen unterschätzt wurde, machte ihr nichts aus. Eigentlich passte es ihr sogar ganz gut. So konnte sie deren Verhalten ungestört studieren, ohne dass diese misstrauisch wurden.

Was Pelle betraf, war sich Frida allerdings sicher, dass Mama nicht an ihm interessiert war. Oft genug hatte sie betont, dass sie keinen Mann an ihrer Seite brauchte. »Nur wir beide. Das reicht doch, oder nicht? Haben wir es nicht gemütlich miteinander?«

Frida nickte dann immer. Natürlich hatten sie das. Und trotzdem – hin und wieder wünschte sie sich einen Familienalltag, wie ihre Freundinnen ihn hatten. Mama, Papa und mindestens zwei, drei Kinder. Ein großer Esstisch, beim Abendessen redeten alle durcheinander, es wurde gelacht und gescherzt. Bei Frida und ihrer Mutter war es still. Harmonisch, aber still. Doch diese Gedanken behielt sie für sich. Ihre Mutter hatte es eh schon schwer genug. Frida schämte sich für ihre geheimen Wünsche. Sie wusste, ihre Mutter hätte gern mehr Zeit mit ihr verbracht, anstatt Extraschichten im Büro der Holzfabrik zu schieben. Nur durch solche Überstunden konnten sie ab und zu verreisen.

Von der Landstraße bog Frida in einen Waldweg ein. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Sohlen ihrer dick gefütterten Stiefel. Sie zog den Schal enger unter dem Kinn zusammen, band einen Knoten hinein und tastete in der Jackentasche nach dem Aventurin. Mama hatte ihn ihr zum ersten Schultag geschenkt. »Er ist der Schutzstein der Waage-Geborenen.« Mit diesen Worten hatte sie den grünen Stein auf Fridas Handfläche gelegt und ihr die Finger darum geschlossen. Er hatte sich glatt und überraschend warm angefühlt.

Alarmiert blieb Frida stehen. Wo war er heute? Hatte sie ihn in der Schule liegen lassen? Oder am Ende gar verloren? Ihr Herz schlug schneller, das durfte nicht sein! Auf diesen letzten Metern nach Hause, die sie durch den dichten Nadelwald zurücklaufen musste, hielt sie ihn doch immer fest in der Hand.

Sie kramte tiefer in der Tasche und atmete auf. Da war er. Rasch schloss sie ihre Faust um ihn und lief in den dunklen Wald hinein.

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PROLOG – Mittwoch, 6. Februar 1952
Ist das ein Schrei gewesen? Mit einem Ruck setze ich mich im Bett auf, lausche in die Dunkelheit. Alles ist still. Vielleicht war es nur ein Traum? Ich lege mich wieder hin, suche meinen Teddy, drücke ihn an mich. Nur ein Traum.
Aber als ich die Augen schließe, höre ich es wieder. Es klingt wie ganz dolles Weinen. Ist das Mama? Ich habe Angst, verkrieche mich unter der Decke, bis ich fast keine Luft mehr bekomme. Das Schluchzen hört nicht auf. Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Dann setze ich mich wieder hin. Was, wenn Mama Hilfe braucht? Ich will nicht aufstehen. Und doch schlage ich die Bettdecke zurück. Suche mit den Füßen nach meinen Hausschuhen. Sie sind kuschelig weich, die Wärme gibt mir Mut.
Ich tappe zur Tür, öffne sie ein kleines bisschen. Jetzt höre ich das Weinen ganz laut. Es kommt aus dem Schlafzimmer von meinen Eltern. Papa ist nicht da, er ist verreist wegen seiner Arbeit.
Langsam mache ich einen Schritt, dann noch einen. Und so weiter, bis ich an der angelehnten Schlafzimmertür stehe. Ich trau mich nicht, durch den Türspalt zu schauen. Vielleicht sehe ich dann was ganz Schlimmes. Aber es ist doch meine Mama, die da weint. Ich will sie trösten.
Vorsichtig linse ich durch den Spalt. 

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PROLOG – Sonntag, 3. September 2017

Der Schlag traf sie unvorbereitet mitten ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts und schaffte es gerade so, nicht zu stürzen. Wie konnte er es wagen! Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass er diese Grenze überschreiten würde. Nicht nach allem, was sie über seine Kindheit erfahren hatte, über seinen Vater.
Dann sah sie in seine Augen, die kurz zuvor noch so sanftmütig geblickt hatten, so treu ergeben. Entfesselte Wut blitzte ihr entgegen.
Sie hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Er hatte den einen Moment ausgenutzt, in dem sie nicht aufgepasst hatte.
Es war ein Fehler gewesen, sich so stark auf ihn einzulassen, ein Fehler, mit ihm herzukommen, in diese abgelegene Hütte auf einer Anhöhe. Ein idyllisches Wochenende zu zweit hätte es sein sollen, fernab von Bordeaux in malerischer Natur. Um sie herum nichts als Weinfelder und Wald, die nächsten Nachbarn weit entfernt. Keiner hörte sie, wenn sie schrie.
Sie musste hier weg. Sofort. Weg aus der Hütte, weg von ihm.

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Leseprobe_VerhängnisvolleProvence Kopie-Titelbild-klPROLOG – Freitag, 6. Mai 1994
Seidiges Haar, das mich an Feenzauber denken lässt. Sie sieht mich an, ohne eine Miene zu verziehen. Die Sekunden tröpfeln dahin, keine Reaktion. Hat sie mich nicht verstanden? Habe ich zu leise gesprochen? Oder zu undeutlich? Das wird mir ständig vorgehalten. Das Blut schießt mir in den Kopf. Wie ich das hasse! Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich es kontrollieren könnte. So was von peinlich!
     Seit Tagen habe ich darauf gelauert, sie allein anzutre en. Andauernd ist sie mit ihren Freundinnen zusammen. Bis auf freitags, die letzten beiden Stunden. Da hat sie Informatik. Ohne die Freundinnen. Ich habe den Kurs nur wegen ihr belegt. Nach der Pause habe ich sie abgepasst.
     Und nun stehe ich hier wie ein Idiot. Alles fühlt sich falsch an.
     Endlich bewegt sie ihre Lippen. »Ob ich mit dir zum Frühlingsfest gehe?« Ihre Augen ruhen auf meinen ammenden Wan- gen, auf die ich am liebsten meine Hände pressen würde.
     Ich schlucke. Nicke. Die Zunge klebt am Gaumen. Meine Kehle ist trocken wie die Sahara.

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PROLOG – Freitag, 5. Januar 1962
»Du bist raus.« Die Kunstdrucke an der Wand gegenüber verschwammen vor seinen Augen zu einem grellen Farbenbrei. Wie sollte es weitergehen? »Du bist raus und hast ab sofort nichts mehr mit uns zu tun. Die Papiere erhältst du mit der Post.«
     Er fühlte einen Kloß im Hals und schluckte. Seit Jahren hatte er nicht geweint. Wann hatte er das letzte Mal seine Tränen auf den Wangen gespürt? Jetzt war er kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen! Es half nichts. Die Worte, die er eben vernommen hatte, hallten in seinen Ohren wider, füllten seinen Kopf aus, wanderten in seinen Körper und schwollen dort an, bis für nichts anderes Platz war.
     »Du bist raus und allein für diese Dinge verantwortlich. Falls du dir überlegen solltest, etwas zu unternehmen, irgendwelche Maßnahmen ein- zuleiten – denk daran, du hast nichts gegen uns in der Hand.«

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PROLOG
Das Schlucken fiel ihm schwer. Etwas steckte in seinem Mund, drückte seine Zunge nach unten. Er konnte den Mund nicht öffnen. Arnaud versuchte sich zu bewegen. Es funktionierte nicht. Er lag auf der Seite. Seine Hände waren auf den Rücken gebunden. Seine Schultern, seine Knie, alles tat ihm weh. Die Beine ließen sich nicht strecken, sie waren schmerzhaft weit nach hinten gebogen. Die Füße hinten gefesselt. Harter Boden unter ihm. Dunkelheit um ihn herum.
     Ganz allmählich schälten sich Konturen aus der Schwärze. Vor seinen Augen erschien eine Mauer. Alte Steine. Den Kopf konnte er ein wenig bewegen. Wenn er ihn nach oben drehte, konnte er Schemen einer hohen Steindecke ausmachen. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Wie er hierher gekommen war. Er wand sich in den Fesseln, um sie ein Stückchen zu lockern. Umsonst. Die allerkleinste Bewegung der Beine zerrte an seinen Händen.

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